Metallbaukasten

 
Chinesischer Kompasswagen (South Pointing Chariot)

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  Unsere Frankreich-Rundreise im Jahr 2008 brachte uns erstmalig in die Stadt Caen, die Hauptstadt der Region Basse-Normandie. Neben einer Stadtbesichtigung stand hier auch ein Besuch der Burg von Caen auf dem Programm.

Beim Spazieren über die Burgmauer entdeckten wir - ziemlich lieblos auf einer Wiese abgestellt - einen Chinesischen Kompasswagen (engl.: South Pointing Chariot). Sogleich stiegen wir hinab, um dieses Teil etwas genauer zu betrachten.
Sicher ist dieser Kompasswagen kein antikes Stück, sondern eher vielleicht ein Meisterstück oder ähnliches. Dennoch ist es uns völlig unverständlich, wie man ein solch außergewöhnliches Teil aus Holz ungeschützt Wind und Wetter aussetzen kann.


Kompasswagen
Der Kompasswagen...
 
Kompasswagen
... in der Burg von Caen

Damit war die Idee geboren, einen solchen Kompasswagen irgendwann auch einmal aus den Teilen eines Metallbaukastens zu bauen - und dies ist unser Modell 2011.

Kompasswagen - Modelle existieren bereits in vielfältiger Form, auch aus Metallbaukasten. Hintergrundinformationen zu diesem mechanischen Richtungsweiser findet man außerdem im Internet. An dieser Stelle sollen deshalb nur einige praktische Aspekte betrachtet werden.


Die richtungsweisende Funktion eines Kompasswagens basiert auf dem Verhalten eines herkömmlichen Differenzials, wie es z. B. aus der KFZ-Technik bekannt ist. Die Übertragungsfunktion eines Differenzials lässt sich mathematisch allgemein darstellen durch die Gleichung


nK = (n1 + n2) / 2
nK      = Drehzahl des Differenzialkäfigs in 1/s
n1, n2 = Drehzahlen der Eingangswellen in 1/s

Obige Gleichung lässt sich z. B. an einem Modellauto-Differenzial leicht überprüfen, wobei eine entgegengesetzte Drehrichtung durch ein Minus-Zeichen (-) repräsentiert wird.
Da alle Drehzahlen dieselbe Maßeinheit haben, wird diese nachfolgend weggelassen.


Bei einem Kompasswagen werden die Drehzahlen n1 und n2 prinzipiell entgegengesetzt zueinander in das Differenzial eingekoppelt (Subtraktionsdifferenzial); das Minus-Zeichen kann deshalb von vornherein in die Gleichung eingefügt werden:


nKK = (n1 - n2) / 2
nKK    = Drehzahl des Differenzialkäfigs des Kompasswagens
n1, n2 = Drehzahlen der Eingangswellen

Die konstruktiven Anforderungen ergeben sich aus unterschiedlichen Betriebsbedingungen.


1. Geradeauslauf

Bei Geradeauslauf sind n1 und n2 idealerweise gleich groß. In diesem Fall ist n1 - n2 = 0 und der Differenzialkäfig mit dem daran befestigten Richtungsweiser steht still bzw. zeigt in seine ursprünglich eingestellte Richtung.

Die Anforderungen an die Räder sind leicht erkennbar, wenn man obige Gleichung durch eine vorgegebene Strecke s und die Rad-Umfänge U1 und U2 bzw. die Rad-Durchmesser d1 und d2 ersetzt:


nKK   =    (n1 - n2) / 2    =    (s / U1 - s /U 2) / 2   =    (s · (d2 - d1)) / 2 · d1 · d2 · π)

Es liegt auf der Hand, dass für eine möglichst präzise Funktion in erster Linie beide Rad-Umfänge bzw. deren Durchmesser möglichst exakt gleich groß sein müssen.

Des Weiteren ist erkennbar, dass die Drehung des Differenzialkäfigs umgekehrt proportional zum Rad-Durchmesser ist. Daraus folgt, dass die Räder möglichst groß sein sollten, damit deren Drehzahl möglichst gering bleibt - je niedriger die Drehzahl der Räder, desto niedriger ist bei einem nicht vollständig vermeidbaren Größenunterschied auch die Drehung des Differenzialkäfigs.


2. Kurvenfahrt

Sind n1 und n2 aufgrund einer Kurvenfahrt unterschiedlich, dann resultiert daraus eine Drehung des Differenzialkäfigs; diese sollte idealerweise so groß sein, dass der Richtungsweiser seine ursprünglich eingestellte Richtung beibehält.

Das ist nur unter einer bestimmten Voraussetzung der Fall, die sich am einfachsten nachvollziehen lässt, wenn man ein Rad des Kompasswagens festhält (n2 = 0) und den Kompasswagen einmal vollständig um das feststehende Rad dreht.
Der Richtungsweiser (Differenzialkäfig) muss sich in diesem Fall exakt einmal um sich selbst drehen (360°).

Für die Drehzahl des rollenden Rades ergibt sich in diesem Fall

n1 = 2 · nKK
mit n2 = 0

Das rollende Rad des Kompasswagens muss sich demnach doppelt so schnell drehen, wie der Differenzialkäfig.


Die zurückgelegte Strecke des rollenden Rades entspricht einem Umfang URoll, der sich aus dem Abstand der Räder a errechnet zu

URoll = 2 · a · π
URoll = Roll-Umfang (zurückgelegte Strecke)
a       = Abstand der Räder

Der Umfang eines Rades selbst ergibt sich aus
URad = d · π
URad = Rad-Umfang
d       = Rad-Durchmesser

Wenn sich das Rad mit dem Umfang URad auf dem Roll-Umfang URoll exakt zweimal drehen soll, dann folgt daraus

(URoll) / (URad) = 2

(2 · a · π) / (d · π) = 2

a = d

Der Abstand der Räder muss also deren Durchmesser entsprechen, was der Forderung nach möglichst großen Rädern entgegensteht. Ein definierter Rad-Abstand ist zudem nur bei einer möglichst schmalen Auflagefläche realisierbar, dennoch muss eine vollständige Traktion zum Boden gewährleistet sein.


Fehlerbetrachtung bei Geradeauslauf

Angenommen sei eine Strecke s = 1000m, auf der ein Kompasswagen exakt geradeaus gezogen wird. Ein Rad habe einen Durchmesser d1 = 1m und das andere Rad sei mit einem Durchmesser d2 = 0,999m um 0,1% kleiner. Vorausgesetzt sei eine vollständige Traktion der Räder zum Boden.

Nach Einsetzen obiger Werte in die Gleichung


nKK = (s · (d2 - d1)) / 2 · d1 · d2 · π

ergibt sich eine Drehung des Differenzialkäfigs von 0,159 Umdrehungen. Eine knappe sechstel Umdrehung erscheint auf den ersten Blick zwar nicht dramatisch, umgerechnet auf eine Winkelabweichung entspricht das aber bereits einer Missweisung von 0,159 · 360° = 57° - und das bei einer angenommenen optimalen Traktion der Räder.

Würde man einem solchen Richtungsweiser folgen, dann beschreitet man einen Kreis mit einem Umfang von ca. 6km bzw. einem Radius von ca. 1km. Vermutlich kann ein Mensch bei Dunkelheit ohne Hilfsmittel eine deutlich längere Strecke einigermaßen geradeaus laufen.

Wären die Räder doppelt so groß, dann wäre die Missweisung "nur" halb so groß, allerdings müsste der Kompasswagen dann doppelt so breit sein.

Angesichts obiger Betrachtungen kann man mit ruhigem Gewissen behaupten, dass ein Kompasswagen niemals auch nur halbwegs "praxistauglich" sein kann. Dennoch - ein Kompasswagen ist ein interessantes Gerät, und für ein Metallbaukasten-Modell ist ein Kompasswagen allemal ein dankbares Vorbild.


Bei unserem Modell wurde bewusst keinen Wert auf eine kompakte Bauweise gelegt, ganz im Gegenteil. Der Kompasswagen - und besonders auch die richtungsweisende Figur - sollte so groß sein, dass man ihn an eines der ferngesteuerten Fahrzeuge hängen kann und seine Funktion noch in einigen Metern Entfernung erkennbar ist.

Als Räder wurden deshalb die 15cm-MÄRKLIN-Tellerräder verwendet und im Sinne einer möglichst schmalen Auflagefläche und bester Traktion mit O-Ringen umspannt. Damit die O-Ringe nicht abrutschen, wurden sie mit angedeuteten Speichen aus Bogenbändern gesichert.

Das Getriebe besteht aus insgesamt 9 MÄRKLIN-Universalzahnrädern, die für diesen Zweck bestens geeignet sind.

Der Kompasswagen erreicht eine Höhe von 33cm. Zum Verpacken und Transportieren ist die verhältnismäßig überdimensionierte Figur deshalb ohne Werkzeug abnehmbar.


Kompasswagen
Der Chinesische Kompasswagen...
 
Kompasswagen
... aus dem Metallbaukasten

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